Redaktionen sind an den Medienpleiten mitschuldig
Schwache Anzeigenmärkte und fehlende Visionen in den Verlagsetagen sind nicht die einzigen Gründe für die Millionenverluste bei deutschen Zeitungen. Auch die (Chef)Redaktionen tragen eine Mitschuld. Sie produzieren und denken immer noch wie zu Zeiten des rasendenden Reporters Egon Erwin Kisch. Zeit, endlich umzudenken!
Kennen Sie Nicolas Kristof? Nein? Dann besuchen Sie doch mal sein Facebook-Profil (siehe hier). 540.000 Abonnenten hat der Reporter der New York Times eingefangen. Geht Kristof auf Recherchereisen in den Nahen Osten, mobilisiert er seine Fangemeinde. Der Journalist nutzt die Intelligenz des Schwarms. Die Fangemeinde hilft ihm bei Recherchen, liefert Tipps, gibt Anregungen – bis sein Artikel in der New York Times erscheint. Und auf Facebook. Das führt zu weiteren Diskussionen und zu neuen Themenideen. Auch die Verlagsleute erfreuen Kristofs Artikel: Sie generieren Klicks und Käufer. Kristof nutzt die Wertschöpfungskette komplett aus.
Redaktionen laufen den Entwicklungen hinterher
Sie fragen sich, was Herr Kristof mit der Krise der deutschen Verlage zu tun hat? Sehr, sehr viel. Redaktionen in Deutschland humpeln im Gegensatz zu Kristof seit 15 Jahren den großen Medientrends hinterher. Statt zu gestalten, zu formen oder zu erfinden, sind sie die Getriebenen des Netzes. Vorneweg Google, die mit Online-Anzeigen jene Milliarden verdient, die den klassischen Verlagen jetzt in den Kassen fehlen. Oder Facebook, das eine Fangemeinde aufgebaut hat, die jeden Lesezirkel vor Neid erblassen lässt. Oder Apple und Amazon, die mit ihren Medienshops traumhafte Umsätze und Gewinne erzielen.
Auch der neueste Trend wird gerade verschlafen
Und wo sind die traditionellen Verlage in diesen drei Bereichen vertreten? Bei den Suchmaschinen, den Communitys, den Medienshops? Fehlanzeige! Auch der vierte große Trend, die lokalen mobilen Dienste, geht wieder an den Traditionshäusern vorbei. Während Google bereits Milliardenumsätze erzielt, versuchen viele deutsche Verlage ihr Glück immer noch mit pdfs. Armes Deutschland.
Wie modern sind unsere Redaktionen aufgestellt?
Alles nur Fehler der Verlagsabteilungén? Mitnichten. Gehen wir der Frage nach, was deutsche Redaktionen getan haben, um im Medienwandel zu bestehen. Um die Journalisten fit fürs digitale Zeitalter zu machen. Ein Aspekt, der bislang kaum diskutiert wurde, obwohl Inhalte die Basis aller Mediengeschäfte sind.
Um das Fazit vorwegzunehmen: In fast allen Redaktionen wird gearbeitet wie vor 100 Jahren. Das Produkt Zeitung bestimmt den Tag. Was machen wir auf Seite 1? Auf Seite 2? In der Politik, im Lokalen, im Vermischten? Wann müssen die Manuskripte abgegeben werden? Wie steht es um die Optik? Alles Fragen, die ab 10 Uhr in Zeitungskonferenzen akribisch besprochen werden – aber die digitalen Medien ausblenden, die um diese Zeit schon den ersten Ansturm an Lesern erlebt haben. Mit einem journalistischen Angebot, das – gemessen an den Redakteurstellenim Verlag – dürftig ist. Qualitätsjournalismus geht anders.
Alle denken nur an Print
Und so geht es den ganzen Tag weiter. Alles denkt an Print, kaum einer an Online. Ich habe bei Zeitungs- oder Magazinberatungen noch nie erlebt, dass Chefredaktionen Themen für alle Kanäle geplant hätten. Nicht ein einziges Mal!
Kein Wunder, dass Redaktionen weit hinter ihren digitalen Möglichkeiten bleiben. Wer beklagt, im Netz nur Geld zu verbrennen, sollte sich fragen, ob das nicht vielleicht an ihm selbst liegt. Schauen Sie sich große Brands wie Coca Cola, Dell oder BMW an. Sie haben im Netz Millionen von Fans um sich versammelt. Anstatt Facebook und Twitter zu verdammen (wie etwa die HerrenHans Werner Kilz und Frank Schirrmacher), nutzen Markenartikler geschickt und erfolgreich die neuen Kanäle – den Medienmanagern zur Nachahmung empfohlen.
Eine Redaktion für alle Kanäle
Was können (Chef)Redaktionen tun, um der Krise zu entkommen? Endlich radikal umdenken. Und handeln. Markige Sprüche für die verlagsinterne Presseschau sollten ersetzt werden durch Taten. Eine Redaktion für alle Kanäle – das muss Realität werden. Erstens um die Qualität der Webseiten zu steigern. Zweites um teure Doppelarbeit zu vermeiden. Drittens um endlich die Chancen des Netzes zu nutzen.
Gesucht: die denkende Website
Nur ein Beispiel. Warum bekommen Besucher einer Nachrichten-Website dieselben Meldungen zu sehen? Gleichgültig, wie oft sie an dem Tag bereits zu Gast waren? Das ist Web 1.0 und weit, weit entfernt von den Diensten, die wir von Google, Facebook oder Amazon gewohnt sind. Warum, liebe Chefredakteure, entwickeln Sie nicht eine intelligente Nachrichten-Site? Die mit jedem Aufruf hinzulernt und Ihren Leser stets neues bietet. Dann wird aus Ihrem Web 1.0 ganz fix ein Web 3.0. Und Sie würden endlich zu ernsthaften Konkurrenten der Big Five werden.
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